Das Zuhause der Gemeinde
Der Bahnhof Hervest-Dorsten ist ein historisch bedeutsamer Ort in Dorsten und hat eine über 100jährige Geschichte. Viele Menschen sind hier abgefahren und angekommen – mit den entsprechenden Geschichten. Auswanderer verließen hier die Heimat und Kriegsgefangene kamen hier zurück. Als zentraler Verkehrsknotenpunkt des Fernverkehrsnetzes hatte der Bahnhof seinen Höhe- punkt in der Weimarer Republik. Über die Jahre unterlag er vielen Veränderungen mit Verlegungen der Haltepunkte, Gleisergänzungen und -rückbauten. Das heutige Gebäude hat ebenfalls einige Nutzungsänderungen erlebt, vom Bahnhofsgebäude zum Übergangswohnheim für Asylbewerber bis hin zum Gemeindezentrum. Darüber berichtet detailliert die Chronik der Freien Christengemeinde Dorsten.
Die im Folgenden abgedruckte Geschichte des Bahnhofs Hervest-Dorsten bis zum ersten Teilkauf durch die Gemeinde im Jahre 1983 stammt mit freundlicher Genehmigung aus dem Buch „Eisenbahn Gelsenkirchen – Bismarck – Winterswijk“ von Rolf Swoboda, Verlag Kenning, 1993, ISBN 3-927587-11-7
Am 1. März 1874, also etwa sechs Jahre vor Inbetriebnahme der Niederländisch Westfälischen Eisenbahn, hatte Dorsten seinen ersten Bahnanschluss erhalten. Der Bahnhof lag etwa 1,5 km entfernt auf dem nördlichen Lippeufer. An diesem Tag hatte die Cöln-Mindener Eisenbahn ihre „strategische“ Bahn von Haltern zur Festung Wesel in Betrieb genommen. Als dann 1879 die Rheinische Eisenbahn und ein Jahr später die NWE den Betrieb aufnahmen, kreuzten ihre Linien die Strecke Haltern Wesel etwa 600 m östlich des CME-Empfangsgebäudes. Sowohl die Rheinische Eisenbahn als auch die Niederländisch-Westfälische Bahn hatten in ihren ursprünglichen Planungen keinen Bahnhof in Hervest vorgesehen, da entsprechend der damaligen linienbezogenen Denkweise der Umsteigeverkehr allenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielen würde. Dennoch wurde am 15. Mai 1880 seitens der Rheinischen Eisenbahn (Strecke DorstenRheine) die Haltestelle Hervest in Betrieb genommen. Das Empfangsgebäude verdiente seinen Namen nicht; es handelte sich um ein kleines, kaum 14 m langes Fachwerk- häuschen und lag etwa 50 m südlich des Kreuzungsbauwerks am Ende einer kurzen, aber steilen Rampe auf dem Damm. Im Rahmen der Umbauarbeiten wurde ein 150m langes Kreuzungs- bzw. Überholgleis mit ent- sprechenden Bahnsteigaufschüttungen an beiden Gleisen angelegt. Die NWE konnte von dem neuen Haltepunkt allerdings nicht profitieren, da eine gemeinschaftliche Nutzung von Empfangsgebäude und Bahnhof – im Gegensatz zu Dorsten – vertraglich nicht vorgesehen war. So trat die auf der NWE betriebsführende Bergisch-Märkische Eisenbahn kurzfristig mit der Rheinischen Eisenbahn in Verhandlungen, die schon bald zu einem positiven Ergebnis führten.
Am 18. September 1880 konnte die KED Elberfeld mitteilen, „daß wir wegen des Anhaltens unserer Züge in Hervest mit der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft in Verhandlungen stehen und voraussichtlich mit dem 15. Oktober des Jahres das Anhalten wird erfolgen können …“. Als bauliche Maßnahmen wurde neben dem Streckengleis Winterswijk – Bismarck lediglich ein zusätzlicher Bahnsteig aufgeschüttet. Ausweichmöglichkeiten bestanden nicht, ebenso gab es keine Weichenverbindungen zur Rheinischen Eisenbahn. Dieser Zustand eines unechten Turmbahnhofs, in dem die Züge im unteren Bahnhof etwa 600 m von denen im oberen Bahnhof entfernt hielten, machte einen abgestimmten Fahrplan so gut wie unmöglich und konnte auf Dauer keinesfalls befriedigen. Zusätzlich mußte der Reisende bei jedem Wechsel der Gesellschaft sein Gepäck neu aufgeben sowie neue Fahrkarten lösen. Klagen waren besonders aus dem Raum Borken laut geworden, wo diese Art Eisenbahnpolitik scharf kritisiert wurde. Erst am 5. April 1881 erklärten sich die Cöln-Mindener und die Rheinische Eisenbahn nach zahlreichen Eingaben des Landrats von Borken und der Regierung von Münster endlich bereit, durchgehende Fahrkarten von Winterswijk, Borken, Rhade und Gladbeck nach Haltern, Wesel, Münster und Coesfeld und umgekehrt auszustellen. Nach wie vor aber hatten umsteigende Reisende den Transport ihres Gepäcks selbst zu übernehmen. Erstmalig auf deutschen Bahnen wurde mit der Inbetriebnahme des neuen Empfangsgebäudes der „Billettschalter“ durch die „Fahrkartenausgabe“ ersetzt. Dazu bemerkte das Dorstener Wochenblatt: „Die Eisenbahnverwaltung scheint im Kampf gegen die Fremdwörter mit eingetreten zu sein, was gewiß freudig zu begrüßen ist. “ Trotz der Verlegung des unteren Bahnhofs konnte auch dieser Zustand auf Dauer nicht befriedigen. Obwohl man auf der Strecke Dorsten – Rheine zwischenzeitlich das Kreuzungsgleis auf 250 m verlängert hatte, war auf der Linie nach Winterswijk eine derartige Einrichtung noch im- mer nicht vorhanden. Wurden Züge auf der „Holland-Linie“ abgefertigt, dann müssten zur Sicherheit der Reisenden auch die beiden Gleise der Rheiner Strecke gesperrt werden. Dieser Zustand war angesichts des immer weiter zunehmenden Verkehrs auf Dauer nicht tragbar. Aus diesem Grund wurden in den Jahren 1894 und 1895 auf dem oberen Bahnhof zwei Inselbahn- steige geschaffen, die durch einen Personentunnel mit dem Empfangsgebäude verbunden wurden. Damit hatte das kleine Stationsgebände der früheren Rheinischen Eisenbahn ausgedient. Etwa gleichzeitig erhielt auch der Streckenabschnitt Dorsten – Hervest sein zweites Gleis. Erst nach Abschluss dieser Baumaßnahmen änderte die Bahn ihre Fahrpläne dahingehend, dass die Züge aus allen Richtungen etwa gleichzeitig in Hervest eintrafen und auf diese Weise gute Anschlüsse in alle Richtungen garantiert waren.
1905 begannen die Abteufarbeiten von Schacht 1 der Zeche Baldur im Westen des Bahnhofs, 1910 die von Schacht 1 der Gewerkschaft Fürst Leopold im Osten. Beide Zechen konnten nur an den unter- en Bahnhof angeschlossen werden. Zwar bestanden dort zu dieser Zeit bereits Anschlußgleise an die Dorstener Eisengießerei und Maschinenfabrik, die Westfälischen Sand- und Tonwerke und das Dampfsägewerk Lorey, doch war mit dem hohen Verkehrsaufkommen der beiden Zechen ein Umbau des unteren Bahnhofs nicht zu umgehen. Die zuständige Eisenbahndirektion in Münster hatte die notwendigen Pläne im Mai 1911 ausgearbeitet und am 31. Juli 1911 genehmigen lassen. Vorgesehen war dabei die Erweiterung der Abstellanlagen, für welche der Bahnhof mit seinen bisher vier Gleisen nicht aufnahmefähig war. Um die nötigen Kapazitäten zu schaffen, war eine Verschiebung der Durchgangs- gleise auf die Nordseite sowie die Ausdehnung der Bahnanlagen für den Freiladebereich nach Süden vorgesehen, dazu eine komplette Rangieranlage mit Ablaufberg. Auf der Westseite des Bahnhofs war sogar das Gelände für die Ausfädelung einer später eventuell notwendig werden- den zweigleisigen Güterbahn nach Dorsten vorgesehen. Mit der Ausdehnung der Bahnanlagen nach Süden hin musste auch das alte Empfangsgebäude der ehemaligen Cöln-Mindener Eisen- bahn weichen; es wurde 1913 abgerissen.
Der ständig wachsende Personenverkehr ließ nach nur einem Jahrzehnt auch das zweite Empfangsgebäude von Hervest aus allen Nähten platzen. Diesmal jedoch machte man Nägel mit Köpfen. Ein L-förmiger Neubau, wie sein Vorgänger direkt im Bereich des Kreuzungsbauwerks errichtet, wurde großzügig ausgestattet und erhielt neben den Diensträumen für den Stationsvorsteher eine geräumige Schalter- halle. Vom Eingang her lag linkerhand die Fahrkartenausgabe mit den beiden Fahrkartenschaltern sowie die Gepäckabfertigung. Auf der rechten Seite befand sich die Bahnhofswirtschaft. Im Obergeschoß hatte man Wohnungen für den Bahnhofsvorsteher und den Wirt eingerichtet. Die offizielle Inbetriebnahme des Neubaus fand vermutlich Anfang des Jahres 1913 statt. Der neu eingerichtete Inselbahnsteig, vom Empfangsgebäude mit Hilfe einer Unterführung erreichbar, besaß in Richtung Haltern ein Überholgleis mit Bahnsteigkante, so dass im oberen und unteren Bahnhof insgesamt sieben Personenzüge gleichzeitig abgefertigt werden konnten. Diese Möglichkeit wurde auch vollständig genutzt, wie der Sommerfahrplan 1914 belegt:
Unterer Bhf.:
Zug 844 6.35 an / 6.53 ab (Haltern – Venlo),
Zug 837 6.40 an / 7.05 ab (Venlo – Haltern),
Zug 199 6.51 an / 6.52 ab (Antwerpen – Münster, Kurswagen Brüssel – Altona),
Oberer Bhf.:
Zug 678 6.44 an / 6.54 ab (Quakenbrück – Oberhausen),
Zug 679 6.47 an / 6.53 ab (Oberhausen – Quakenbrück),
Zug 1129 6.47 an / 6.53 ab (Amsterdam – Wanne),
Zug 1130 6.44 an / 6.55 ab (Wanne – Amsterdam).
(Anmerkung: die dargestellten Zeiten beziehen sich auf die frühen Abendstunden)
Anhand dieses Beispiels wird deutlich, welch ausgewogene Verbindungen im Nah- und Fernbereich in Hervest zu jener Zeit bestanden haben. Damit war dieser Bahnhof im Personenverkehr zweifellos das pulsierende Zentrum, trotz des erst im nächsten Jahr vollendeten zweigleisigen Ausbaues der Strecke Wesel – Haltern. Der gesamte Bahnhofsumbau wurde mitten im Krieg mit der polizeilichen Abnahme am 24. Februar 1916 abgeschlossen.
Nachdem 1946 entschieden worden war, die zerstörte Weseler Rheinbrücke nicht wiederaufzubauen, war das Schicksal der Haltern-Weseler Strecke endgültig besiegelt. 1948, direkt nach der Wiederinbetriebnahme des durchgehenden Nord-Süd-Verkehrs zwischen Hervest und Dorsten, wurde der Abschnitt Hervest – Wesel, zwei Jahre später auch die Reststrecke bis Haltern auf eingleisigen Betrieb zurück- gebaut. Zwischen Hervest und Haltern war der Betrieb vom 28. Februar 1950 (Aufnahme des eingleisigen Betriebes) bis zum 12. März 1951 (Inbetriebnahme des eingleisigen Streckenblocks) mittels besonderer Befehle durchgeführt worden. Zu dieser Zeit wurde auch das Überholgleis am Bahnsteig (Gleis 2) entfernt.
Die Wiederinbetriebnahme der Verbindungskurve zwischen Hervest (tief) und Dorsten verzögerte sich bis zum 14. Juli 1953. Bereits am 18. März 1953 war das zweite (westliche) Streckengleis zwischen Hervest und Dorsten fertiggestellt worden. Hieran schloß man die Verbindungskurve an und so konnte auf den Bau einer separaten Kanalbrücke verzichtet werden. Im Gegensatz zur Vorkriegssituation waren die Bahnhofsgleise von Hervest nun bis zur Lippebrücke verlängert worden, so daß die Ausfahrtsignale von Hervest auch gleichzeitig die Einfahrtsignale von Dorsten waren bzw. umgekehrt.
Noch vor der Stillegung des Personenzugverkehrs zwischen Haltern und Wesel wurde am 28. Oktober 1959 der VZB Betrieb (vereinfachter Zugleitbetrieb) auf dieser Strecke eingeführt. Damit entfielen mit Ausnahme von Hervest auf allen Unterwegsbahnhöfen die Ein- und Ausfahrtsignale, von denen erstere durch Trapeztafeln ersetzt wurden. In Verbindung mit dieser vereinfachten Betriebsweise wurde der Westkopf in Höhe des Stellwerks „Hw“ drastisch vereinfacht. Drei Jahre später, sofort mit Stillegung des Personenverkehrs auf dem unteren Bahnhof, wurde der ungepflegte und reparaturbedürftige Personentunnel zum Empfangsgebäude geschlossen.
Für den zunehmenden Individualverkehr bedeutete – nach Meinung der Straßenbau-verwaltung – der Bahnübergang Halterner Straße im Zuge der Verbindungskurve ein Verkehrshindernis, so daß dieser nach längeren Diskussionen schließlich zum 14. April 1971 stillgelegt wurde. Schon zwei Jahre vorher war der Anschluß zum Sägewerk Lorey, der ebenfalls über diese Straße führte, gekündigt worden. Einem Straßenneubau und der Aufweitung der Bahnbrücken stand somit nichts mehr im Weg. Letztere erfolgte in den Jahren 1975-78. Hiernach bestand bis zum Bau der Ostkurve keine Verbindung mehr zwischen dem oberen und dem unteren Bahnhof. Der gesamte Güterverkehr wurde während dieser Zeit über Haltern abgewickelt. Nach der Gesamtstillegung des Abschnitts Schermbeck – Anschluß RWE bei Wesel wurde auf der ehemaligen CME Strecke nur noch die Bedienung des Bahnhofs Schermbeck mit Hilfe von Übergaben von Hervest aus durchgeführt.
Etwa zur gleichen Zeit nahm mit Bildung der Ruhrkohle der Rangierverkehr stark ab, so daß schon im Jahr 1973 der Ablaufbetrieb aufgegeben und drei Jahre später das Stellwerk „Hw“ außer Betrieb gesetzt werden konnte. Da aber bei der Einfahrt der Züge aus Richtung Haltern die Durchrutschwege gesichert werden mußten, wurden einige Weichen noch bis zur Inbetriebnahme der Ostkurve durch ein Schlüsselwerk gesichert. Seither wird Hervest wieder von Dorsten aus bedient. Die ankommenden Züge fahren in das Streckengleis nach Haltern ein und schieben anschließend den Zug als Rangierfahrt in die Bahnhofsgleise (unten). Anfahrende Züge setzen entsprechend erst in das Halterner Gleis zurück. Wegen der erheblichen Steigung müssen praktisch alle Züge nachgeschoben werden (Grenzlast 1.480 t). Diesen Schiebedienst versieht vertragsgemäß eine Zechenlok. Der Bau der Ostkurve zog einen völligen Umbau des Ostkopfes nach sich. Gleis 1 wurde verkürzt und in ein Stumpfgleis umgewandelt. Die Gleise 3 und 4 wurden neu an Gleis 5 angeschlossen, über das auch gleichzeitig der gesamte Verkehr zur Zeche Fürst Leopold läuft. Seither können – zumindest theoretisch – Leerzüge direkt in die Zeche einfahren, was aber praktisch nur selten geschieht.
In Verbindung mit dem Bau der Ostkurve wurde auch der zweite obere Bahnsteig außer Betrieb gesetzt. Seit Mitte der Achtziger Jahre bemüht sich die Bundesbahn um die Außerbetriebsetzung des Stellwerks „Hdf“. In verschiedenen Planspielen wurde ein Rückbau des oberen Bahnhofs zu einem reinen Haltepunkt sowie die Umstellung des unteren Bahnhofs auf Handbetrieb geprüft. Da jedoch die Leerzüge in gebündelter Form in den Morgenstunden und die Abfuhr der beladenen Züge in den Nachmittagsstunden erfolgt, wurden anstelle der gewünschten Rationalisierungseffekte lediglich betriebliche Schwierigkeiten erkennbar. Außerdem war ein nennenswerter Personalabbau nicht zu erwarten. Zwar wurden im Jahr 1989 Mittel zur Auflassung des Stellwerks und zum Umbau der Gleisanlagen bereitgestellt, doch die entsprechenden Baumaßnahmen immer wieder verschoben. Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang der Brückentausch im Zuge der Borkener und Coesfelder Strecke zu sehen. Bei der letzten Brückeninspektion waren starke Durchrostungen festgestellt worden, so daß alle vier Brückenteile (über die Ost-West-Gleise) ausgetauscht werden mussten (Ende April 1991: Gleis 52, Mai 1992 Gleis 51). Im Anschluß daran wurde der obere Bahnhof zum Haltepunkt zurückgebaut.
Mit Schließung der Fahrkartenausgabe Ende der siebziger Jahre und der Bahnhofsgaststätte Ende des Jahres 1980 schrieb die Bahn das geschichtsträchtige Empfangsgebäude zum Verkauf aus. In einem Bahnhof, wo noch 1965 um die 100 Mitarbeiter nahezu rund um die Uhr gearbeitet haben, sind im Jahr 1990 noch gerade sechs Personen in zwei Schichten tätig: jeweils ein Fahrdienstleiter, ein Wagenmeister und ein Rangierer.